Die Folter und die menschliche Fantasie

Wer sich bereits in unsere aktuelle Sonderausstellung und ganz speziell in den Bereich des peinlichen Verhörs gewagt hat, wird um den Stachelstuhl nicht herumgekommen sein. Wie ein Mahnmal für die Grausamkeit der Folter steht er da. Manch einer wird sich bei seinem Anblick durchaus eingeschüchtert gefühlt haben. Doch mehr als ein Mahnmal ist der Stachelstuhl gar nicht. Denn die Historizität, also die geschichtliche Authentizität dieses Stuhls, ist größtenteils widerlegt. Der Stachel- oder Marterstuhl ist in dieser Form während eines Verhörs nie zum Einsatz gekommen. Unser Stuhl selbst ist eine Nachbildung aus dem Hexenbürgermeisterhaus Lemgo und weitaus jünger als die Verfolgungswellen, die das Herzogtum Westfalen im frühen 17. Jahrhundert heimsuchten. Wie der Hexenbecher, mit dem den Angeklagten angeblich heißes Blei eingeflößt wurde, oder auch die Eiserne Jungfrau, deren vermeintliche Funktion den meisten hinreichend bekannt sein dürfte, entstammt auch der Stachelstuhl mit hoher Wahrscheinlichkeit der menschlichen Fantasie.

In der Frühen Neuzeit setzten sich mit der Aufklärung und dem Humanismus geistige Strömungen durch, die den althergebrachten Glaubensüberzeugungen und Sitten zunehmend skeptisch gegenüberstanden. An ihre Stelle traten Wissenschaft, Fortschrittsgedanke und die Verbreitung von Kunst und Kultur. In diesem neuen Selbstverständnis der Gesellschaft stießen die massenhaften Verfolgungen, die sich teils erst ein paar Jahrzehnte früher zugetragen hatten, auf Ablehnung.

Da Originalakten aus der Zeit der Verfolgungen, Kriegswirren und schlechten Lagerbedingungen ohnehin kaum überdauert hatten, trat die Fantasie an ihre Stelle: Die Zeitgenossen machten sich die schrecklichsten Vorstellungen von der peinlichen Befragung und entwarfen mit Objekten wie dem Stachelstuhl angebliche Folterinstrumente, die zur Peinigung der Angeklagten genutzt worden sein sollen. Aus dieser Zeit stammt auch unser Vorurteil, Hexenverfolgung und Folter stammten aus dem tiefsten Mittelalter: Man wollte sich möglichst klar von all dem menschlichen Leid abgrenzen und entfernen, was geschehen war.

Der Stachelstuhl in seiner vorliegenden Form jedenfalls, so brutal er auch anmutet, wäre im Vergleich zu den tatsächlich angewandten Foltermethoden wohl vermutlich das geringere Übel gewesen. Durch die gleichmäßige Verteilung der Zacken sowie die Fettpolster am Unterleib und den Oberschenkeln hätte sich der Schmerz wahrscheinlich in Grenzen gehalten. Über die tatsächlichen Folterinstrumente, die Sie ebenfalls bei uns in der Ausstellung finden, lässt sich dies jedoch nicht so leicht behaupten …

Beitragsbild: Stachelstuhl, Leihgabe aus dem Städtischen Museum Lemgo

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